Als der ehemalige G+J-Manager Stan Sugarman seinen Posten als Chief Customer Officer und Mitglied des Salesforce APAC-Leadership-Teams bei dem Software-Riesen aufgab, um bei einem bis dato eher unbekannten Unternehmen anzuheuern, das 2021 rund 0,3 Prozent des Jahresumsatzes von Salesforce erwirtschaftete, lautete die Begründung: „GAIAs unternehmerischer Spirit und die Leidenschaft, Gesundheitsversorgung durch sicherere und klinisch erprobte Lösungen zugänglich und bezahlbar zu machen, ist etwas, was ich zutiefst bewundere und wertschätze.“ Aus der PR-Blume lässt sich herauslesen: Sugarman hat es gereizt, bei dem Anbieter digitaler Therapien endlich wieder Maschinenöl an den Händen zu spüren.
Und Sugarman ist längst nicht der einzige, der die sichere Corporate-Welt in Richtung Start-up verlässt. In den USA wechselte jüngst der ehemalige Executive Vice President von Coca-Cola, Jim Brennan, zu der D2C-Getränkemarke Lemon Perfect, die unter anderem Béyonce Knowles-Carter und andere Celebrity-Investoren zum Gesellschafterkreis zählt. Die L’Oréal-Veteranin Marianna Trofimova gab ihren Posten als Senior Vice President of Global Marketing and Communications für die Marken Biolage und Garnier für die Stelle als Chief Marketing Officer bei der D2C-Kosmetikmarke Function of Beauty auf. In Deutschland kamN26-Chef Markus Gunteraus dem Vorstand der DAB Bank. In der Düsseldorfer Zentrale des Stromkonzerns Uniper packte Christoph Delbrück siene Sachen und wechselte zum Flugtaxi-Anbieter Lilium. Und Matthias Dimke hängte seinen Geschäftsführerposten bei Barebells Functional Foods Deutschland an den Nagel, um beim Berliner Social-Impact-Unternehmen Share die Leitung des FMCG-Management-Teams zu übernehmen.
„Die US-Start-Ups bauen ihre C-Suites aus, wenn sie bewiesen haben, dass sie Traktion entwickeln können und dann ihr Sortiment sowie die Vertriebskanäle signifikant schnell ausbauen wollen“, schreibt Anna Hensel vom US-Portal Modernretail.co. „Dann suchen sie nach Managern, die erfahren darin sind, verschiedene Unternehmensbereiche effizient auszubauen.“ Julian von Blücher von der Personalberatung Talent Tree kann noch nicht wirklich sehen, dass es diesen Trend auch in der deutschen Start-up-Szene gibt. Er und sein Team machen sich im Auftrag von Scale-Ups oder Wachstumsunternehmen auf die Suche nach „Führungskräften mit Demut und großem Potenzial“, die „Lust haben, die Ärmel hochzukrempeln und im DIY-Verfahren Strukturen und Prozesse zu etablieren, ohne gleich nach großen Budgets oder einer Assistenz zu fragen.“ Seine bisherige Erfahrung zeigt: „Start-ups sind verhältnismäßig konservativ. Die nehmen am liebsten Mitarbeiter von anderen Start-ups.“
Bei Warehousing, Logistik und Supply Chain sind erfahrene Köpfe gefragt
Gerade wenn es um Themen wie Performance Marketing oder andere handwerklich relevante Rollen geht, ist es kulturell nicht immer passend, sich auf große digitale Plattformen zu stürzen. Denn viele arbeiten inzwischen so kleinteilig, dass sie zwar viel Spezialwissen haben, aber unter Umständen der Drive fehlt, sich schnell und ständig in neue Sachen einzuarbeiten. Doch hat der Personalberater auch Rollen identifiziert, wo es sehr sinnvoll ist, Experten aus der Old Economy oder dem FMCG-Umfeld zu suchen. „Das betrifft meiner Erfahrung nach vor allem Themen wie Warehousing, Logistik, Factory-Aufbau oder Supply Chain“, sagt von Blücher. „Und auch wenn beispielsweise D2C-Brands in den Handel gehen, hilft es, Leute aus dem klassischen Retail-Geschäft an Bord zu holen.“
.png)
Dabei sollten beide Parteien im Hinterkopf haben: Ein Wechsel von der Corporate- in die Start-up-Welt ist immer ein kultureller Clash. „Viele Corporates schauen ja mit etwas Naivität auf Start-ups“, lacht der Personaler. Die Wirklichkeit ist häufig weniger unprofessionell, aber auch weniger heil als gedacht. Denn das Start-up-Leben geht auch mit einer gewissen Selbstausbeute einher. Man braucht nicht nur die notwendigen strategischen Skills, sondern muss auch vom Mindset her ein Pusher sein.
Energie statt Sicherheit
Den Clash of Culture, von dem von Blücher redet, hat Dirk Weipert live erlebt. Der heute 52-Jährige verdiente sich seine ersten Sporen nach dem Abschluss seines Jurastudiums 2001 als Rechtsanwalt und Wirtschaftsprüfer bei der mittelständischen Hamburger Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Susat & Partner, nach KPMG und Ernst & Young die Nummer drei im Banken- und Versicherungsbereich. Nach rund neun Jahren, inmitten der Bankenkrise, dachte er über einen Wechsel nach. „Es lief für mich gut da. Es gab professionelle Strukturen, ein gutes Aus- und Fortbildungsprogramm, Geld war grundsätzlich kein Thema. Ich hätte den Partner-Track weitergehen können, aber mir fehlte der schnelle Umgang mit Menschen und am Produkt selbst tätig zu sein“, erinnert er sich zurück. Über Freunde aus der Medien- und Digitalindustrie entstand der Kontakt zu einem Corporate Venture Fonds der beiden Verlage Madsack und WAZ mit insgesamt fünf Mitarbeitern und bis dahin 13 Investments. Und Weipert beschloss, das Sicherheitsseil der mittelständischen Wirtschaftsprüfung zu kappen und den Sprung ins deutlich riskantere Start-up-Leben zu wagen. Ohne Anzug und Krawatte und per Du statt wie bislang per Sie challengte er junge Unternehmensideen und hatte dabei einen riesen Spaß. „Das war ein sehr bunter Haufen an Leuten und eine ganz andere Energie als im klassischen Corporate- und Konzerngeschäft“, sagt Weipert.
.png)
Als die beiden Verlage den gemeinsamen Corporate Fund auflösten, wechselte der Wirtschaftsprüfer zum nächsten Start-up. Facelift hatte gerade einen Finanzierungsrunde über 15 Millionen Euro abgeschlossen. „Zusammen mit den Gründern habe ich die Firma weiterentwickelt und Strukturen für das unglaubliche Personalwachstum gelegt. Parallel ging es um das Einwerben von neuem Geld oder die Suche nach einem strategischen Investor“, so Weipert. Als auch dort die Strukturen zu bürokratisch wurden, zog der Finanz-Profi weiter und dockte über Bekannte, die als Gesellschafter bei Helden.de an Bord waren, bei dem Versicherungs-Start-up an. „Die Gründer und ich tickten ähnlich, wir haben das gleiche Werteverständnis, wie man miteinander und mit den Kunden umgeht und wie man Versicherungsprodukte heutzutage an den Mann bringen sollte. Und ich fand auch die Personen hinter dem Investor Rivella spannend“, erklärt Weipert die Entscheidung. Dass sein künftiger Arbeitsplatz ein schmuckloser Raum mit Rauhfasertapete war, in dem nichts stand als ein Schreibtisch, nahm er dafür billigend in Kauf. „Aber insgeheim denkt man dann schon, okay, das ist jetzt echt basic. Ich fange jetzt wieder in der Garage an“, lacht er.
Finanz-Profi, Team-Builder und Trainer in der Not
Was die Firmengründer von neuen Mitarbeitern erwarten, die rund doppelt so alt sind, wie sie selbst, liegt auf der Hand: Erfahrung. Mit seinem Background aus dem Finance-Bereich muss Weipert in der Regel zunächst einmal die Finanzen in Ordnung bringen, die bei Start-ups in der Anfangszeit oft am stiefmütterlichsten behandelt werden. Darüber hinaus hilft er auch beim Team-Aufbau und bei der Führungskräfteentwicklung. „Gründer sind oft sehr starke Persönlichkeiten, die sich sehr gut ergänzen, aber im Kopf oft nicht die Zeit haben, sich mit Befindlichkeiten abzugeben“, sagt er. Wenn man aus einer großen Organisation komme, wo sehr viel politischer kommuniziert wird, müsse man sich an diesen sehr direkten Umgang miteinander zum einen erst gewöhnen, könne zum anderen aber – ein gewisses empathisches Talent vorausgesetzt – auch eine Rolle als ausgleichendes Moment im Teamgefüge einnehmen.
Und noch eine Folge hat die Erfahrung der Oldies in der New Economy: „Wenn es irgendwo so richtig knallt, richten sich alle Augen auf dich“, erzählt Weipert. Denn im Zweifel habe man selbst eine solche Situation nicht zum ersten, sondern schon zum fünften Mal durchlebt und wisse, dass nichts so heiß gegessen wie gekocht wird. „Man wird dann zu so einer Art Trainerbild. Das ist eine Verantwortung, die man anfangs vielleicht nicht auf dem Schirm hat“, sagt er. Im Berufsalltag selbst kümmert ihn der Altersunterschied nur wenig. Im Gegenteil: Die jungen Leute und deren Energie halten ihn auch selber jung. Nur bei Betriebsfeiern oder beim Feierabend-Bier merke er manchmal: Das ist jetzt so gar nicht meine Musik. Und über Tinder-Dates bin ich auch schon hinweg.
Die „Trainer“-Verantwortung der erfahrenen Führungskräfte wird in Start-ups nicht immer so vergütet, wie die Manager dies aus großen Organisationen gewohnt sind: „Ich musst schon Abstriche machen beim Gehalt, dafür gab es Unternehmensanteile“, sagt Weipert. Darüber hinaus sei das Gehalt auch abhängig von der Phase, in der sich das junge Unternehmen aktuell befindet. Julian von Blücher kann das nur bestätigen: Early Stage bis Series A würden noch nicht ganz marktgängige Gehälter gezahlt. Ab Series A liegen die Gehälter unter Umständen schon gleichauf. Aber spätestens ab Series B seien Start-up-Gehälter durchaus kompetitiv. „Wir haben schon oft erlebt, dass wir Corporate-Profile im Verhältnis zu dem, was im E-Commerce bezahlt wird, überraschend günstig bekommen haben“, erzählt er. Aktuell kühle sich die Situation allerdings wieder etwas ab und man müsse abwarten, was stärker wiegt: der Fachkräftemangel, der zu einer Inflation der Gehälter führt, oder das Abschwächen der E-Commerce-Welt, die etwas den Druck auf die Gehälter nimmt.
Wer nicht nach Anteilen fragt, ist bei einem Start-up falsch
Bei der Bezahlung müsse zudem berücksichtigt werden, was Weipert bereits angesprochen hat: Die Gehälter setzen sich in der Regel aus einem Fixum, einem variablen Anteil und Unternehmensanteilen zusammensetzen. „Wenn das Ziel ein Exit oder Börsengang ist, können die in Einzelfällen astronomische Höhen annehmen“, sagt von Blücher. Der Berliner Modeversender Zalando ist dafür das beste Beispiel: Als Rubin Ritter Mitte 2021 die Konzernspitze verließ, erhielt er eine Vergütung von 89 Millionen Euro. Der Löwenanteil davon entfällt auf Aktienoptionen, die Ritter in den Jahren 2011, 2013 und 2014 erhalten hatte – zum Großteil noch vor dem Börsengang von Zalando.

Natürlich sei das eine Wette, die die Bewerber dabei eingehen. Doch nur wer sich auf die Wette einlässt, zeige vor allem in den Augen VC-finanzierter Start-ups, dass er ausreichend unternehmerisch incentiviert ist, findet von Blücher. Auch Dirk Weipert sieht in der Beteiligung am Unternehmenserfolg einen wichtigen Trigger. „Man handelt viel unternehmerischer und versucht, die Firma zum Erfolg zu bringen, statt nur seinen Job zu machen und abzukassieren, sagt er. Aus eigener Erfahrung rät er aber auch, hier nicht zu viel auf Goodwill zu setzen, sondern vor Start durchzuverhandeln, bis die Anteile in trockenen Tüchern sind.
Die Gehaltsbänder von Start-ups sind ein explosives Pulverfass
Die Bezahlung von Start-up-Mitarbeitern hat aber noch einen ganz anderen Pferdefuß: So wird die Personalberatung Talent Tree Unternehmen immer häufiger im Vorfeld als Berater herangezogen, wenn es darum geht, wie sich Gehaltsbänder angleichen lassen. „Das ist eine immense Herausforderung für Start-ups“, erzählt von Blücher. "Typisch ist, dass in der Vergangenheit oft Leute für ein schmales Gehalt angestellt wurden, die dann mit der Vision mitgefiebert und Vollgas gegeben haben. Und wenige Jahre später kommt eine Person auf die gleiche Rolle und erhält vom Start weg das Doppelte an Gehalt." Auch wenn die ersten Mitarbeiter vielleicht auch Anteile erhalten haben, sei das Gefüge total unausgeglichen. Damit das nicht zu Revolten im Team führt, sollte es Top-Priorität des Managements sein, die Gehaltsbänder anzugleichen, bevor der Recruiting-Prozess angestoßen wird.
Auch wenn es aktuell noch die Ausnahme ist, dass Corporate-Manager zu Start-ups wechseln – im LinkedIn-Postfach von Talent Tree finden sich immer häufiger Anfragen von gestandenen Manager-Profilen, die gerne in die Start-up-Welt wechseln würden. „Ehrlicherweise tun wir uns oft schwer, denen ein relevantes Angebot zu machen“, gibt von Blücher zu. Der Grund: Die Kunden bevorzugen Mitarbeiter, die die vakante Stelle schon einmal in einem Start-up ausgefüllt haben. Doch gibt es ja auch andere Wege, wie Start-up- und Corporate-Welt zueinander finden können: „Wir sehen oft, dass sich Start-ups Industrieexpertise oder Grand Segnieurs als Beiräte an Bord holen, glücklicherweise auch zunehmend Beirätinnen. Wenn die ihre Kontaktbücher nutzen, um Türen zu öffnen, kann das goldwert sein. Dafür muss man sie aber nicht in Vollzeit beschäftigen.“
Wer erfahrene Manager sucht, muss Netzwerke nutzen
Andersrum rät er Start-ups, die gezielt nach Corporate-Managern suchen, diese mutig einfach direkt anzusprechen, selbst wenn die Hoffnungen, sie an Bord zu holen, gegen null tendieren. „Wenn derjenige nicht selbst kommen will, kennt er vielleicht aus seinem Netzwerk jemanden, für den die Position spannend sein könnte“, erklärt der Talent-Scout. Damit der Wechsel für beide Seiten nicht zum Reinfall wird, sollten beide Parteien authentisch und transparent miteinander umgehen. „Wenn sich beide Seiten größer machen als sie sind und dann vielleicht noch das Onboarding schlecht ist, ist die wechselseitige Enttäuschung immens“, weiß von Blücher. Darüber hinaus sollten Start-ups ihren HR-Prozess professionalisieren und Interessenten nicht nur fair und freundlich, sondern auch schnell durch den Bewerbungsprozess bringen. Auch das sei eine Form von Wertschätzung. Dazu gehöre auch, die Arbeitsverträge mehr oder weniger fertig vorbereitet zu haben. „Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man mündlich ein Angebot ausspricht und dann dauert es drei Wochen, bis der Arbeitsvertrag fertig ist, weil der Arbeitsrechtler gerade Urlaub hat. Da kann es passieren, dass der Bewerber schon genervt und weg ist“, sagt von Blücher.
Bei Dirk Weipert ist die Enttäuschung bislang ausgeblieben. Auf die Frage, ob er jemals wieder für ein Corporate arbeiten würde, hat er eine klare Antwort: „Nein!“