Der Traum, nur über den eigenen Online-Shop und befeuert von Social-Media- und Influencer-Marketing eine Brand mit dreistelligen Millionenumsätzen aufzubauen, um dann an die Börse zu gehen oder das eigene Unternehmen zu Traumbewertungen zu verkaufen, geht für die meisten D2C-Start-ups inzwischen nicht mehr auf.
Laut US-D2C-Guru David Bell sind es drei Faktoren, die die jungen Brands heute in eine andere Ausgangslage versetzen als in der Anfangszeit:
1 .Zu viele Copycats: Schon 2018 war auf Inc.com zu lesen, dass über 400 Start-ups versuchen, das nächste Warby Parker zu werden.
2. Zu teure CACs: Der hohe Wettbewerb im Web treibt die Kosten für Kundenakquise massiv in die Höhe. Zeitgleich wird durch Apples Privacy-Ambitionen die Erfolgskontrolle digitaler Werbung und die Attribution verschiedener Kanäle während der Customer Journey massiv erschwert.
3. Zu schlechte Exit-Möglichkeiten: Ein Börsengang ist für die meisten D2C-Brands aktuell genauso wenig eine Option wie eine Übernahme zu interessanten Bewertungen. Stattdessen sackten viele D2C-Börsenkurse im Sog der Tech- und E-Commerce-Baisse ebenfalls massiv ab.

Dass D2C damit tot ist, wie in einigen Fachmedien bereits zu lesen ist, ist allerdings die falsche Schlussfolgerung. Stattdessen brauchen die jungen Brands von heute andere Strategien für den Erfolg als die Pioniere des Segments vor zehn Jahren. "Dass der Hype sich legt, ist gut", konstatierte D2C-Berater Ralph Hübner von D2C Advisors in seinem Vortrag beim D2C Club. "So kann jetzt die Grundidee des D2C in den Fokus rücken und nicht nur die von der Pandemie befeuerten Faktoren. Vor fünf bis acht Jahren genügte ein mittelmäßiges Produkt und gutes Online-Marketing und schon war man vorne dabei und machte ohne Amazon schnell sieben- oder achtstellige Umsätze. Das ist heute undenkbar."
Die Ursprungsidee von D2C war: Challenge the Status Quo!
Die Grundidee des D2C in den USA Anfang der 2010er Jahre war laut David Bell schlichtweg, Dinge besser zu machen als etablierte Hersteller. Michael Dubin gründete den Dollar Shave Club, weil er es nicht einsah, für Rasierklingen so tief in die Tasche greifen zu müssen. Die Idee zu Casper entstand, weil die Gründer die Customer Experience beim Kauf von Matratzen für verbesserungsfähig hielten. Und die Kochgeschirrmarke Caraway wurde ins Leben gerufen, weil die Gründer auf gesundheitsschädliche Chemikalien verzichten wollten – und erkannt hatten, dass die klassischen Brands bis dato keine Ahnung von Online-Marketing hatten.
Die Consultants von D2C Advisors haben die Erfolgsfaktoren von D2C-Brands im sogenannten "3R+-Modell" zusammengefasst. Die drei "R" stehen dabei für:
1. Relevanz: Nur wenn die Produkte einer Marke echte Kundenbedürfnisse erfüllen, werden sie auf dem Markt bestehen.
2. Ressonanz: Nur wenn die Markenstory so den Nerv der Kundschaft trifft, dass diese sie von sich aus in den eigenen Freundes- und Bekanntenkreis tragen, kann eine Brand überleben.
3. Reach: Entweder besitzen die Marken Reichweiten, die sie bespielen können, oder sie "hacken" die Reichweiten anderer. Der permanente Einkauf von Reichweiten bzw. Kunden auf klassischen Wegen (Online-Marketing, TV, PR, Print etc.) ist wirtschaftlich für die meisten Brands nicht mehr darstellbar.
Hinzu kommen die R's der Retention: Nur wenn die Brand eine treue Community aus Wiederkäufern aufbaut, kann sie auf Dauer profitabel agieren. Alternativ generiert sie durch sehr gute NPS-Werte hohe Referral-Quoten (Mundpropaganda) oder sie erzeugt durch ein Kreislaufmodell (Refurb, Re-Commerce etc.) ein Wiederkehren von Ware und Kunden.
"Fehlt einer Brand nur eines dieser drei "R", wird sie auf Dauer nicht erfolgreich sein", sagt Ralph Hübner. In zumindest einem R müsse die Brand exzellent sein, meistens liege die Magie in der Kombination aus Relevanz und Resonanz.

Andere Grundannahmen früherer D2C-Brands funktionieren heute hingegen nicht mehr. So darf diskutiert werden, ob Venture Capital der ideale Nährboden für D2C-Brands ist. "Die wenigsten Marken werden wohl zum Milliarden-Business, daher ist ein rein Exit-getriebenes D2C-Business eher selten geworden", sagt Hübner. "Und wenn, dann gehen die Gedanken vieler D2C-Gründer eher gen spezialisiertenn VC bzw. Corporate VC und Exit an einen strategischen Partner."
"Cutting out the Middleman" hat sich überholt
Und auch der stationäre Handel, anfangs als margenfressender Mittelsmann aus dem Businessplan gestrichen, ist weniger verzichtbar als die meisten D2C-Start-ups dachten. Und das liegt nicht nur an den immer höheren CACs im Web, sondern auch an der Tatsache, dass noch immer 85 Prozent des Konsums stationär stattfinden und nicht im Web. "Man kann heute nicht mehr über D2C sprechen, ohne über den Handel zu reden", postulierte D2C-Investor David Bell beim D2C Club. "Digitale und stationäre Kanäle ergänzen sich gegenseitig und man muss beide besetzen", so sein Credo.
Was bedeutet das aber jetzt für junge D2C-Brands und klassische Hersteller, die auch in Zukunft daran glauben, dass man als Marke im direkten Kontakt zu seinen Kunden stehen sollte? Ralph Hübner sieht für etablierte Hersteller eine neue Variante im Kommen, die er als iD2C bezeichnet. Dabei steht das "i" für "integrated" oder "intertwined". Konkret bedeutet das: Hersteller stellen die D2C-Idee ins Zentrum ihres Wirkens und kontrollieren künftig den Zugang zu ihren Kunden in Eigenregie, passen aber ihre mehrstufigen Vertriebskanäle in dieses Konzept mit ein. "Kundenzentrierung wird somit in allen Bereichen der Wertschöpfungskette endlich mit Leben gefüllt", erklärt Hübner. 30 Prozent des Umsatzes eines Herstellers wird perspektivisch durch dessen D2C-Fähigkeit beeinflusst sein werden, schätzt Hübner. Vor allem in Kategorien, wo es um High Involvement oder High Maintenance geht.
Die D2C-Games neuer Bauart sind durchaus komplex
Je nach Branche gibt es unterschiedliche Motivationen und Treiber für iD2C. Doch sehen sich Hersteller, die diesem Anspruch gerecht werden, ihr Angebot am Kunden ausrichten und alle restlichen Akteure in ihr Modell integrieren wollen, einer erheblich größeren Komplexität ausgesetzt als in den Anfangszeiten des D2C-Geschäfts. Ging es früher – salopp gesagt – darum, Produkte zu entwickeln und Payment und Logistik für den Verkauf selbst in die Hand zu nehmen, müssen in der iD2C-Welt Datenströme kanalübergreifend und über Wertschöpfungsketten hinweg funktionieren – von der Personalisierung über die Warenrücknahme bis zur Circular Economy.
Wie komplex ein solches Konstrukt werden kann, macht Hübner am Beispiel eines Automobilherstellers deutlich. Die Customer Journey, die es zu kontrollieren gilt, umfasst die Suche nach dem richtigen Fahrzeug, die Probefahrt, den Kauf, die Montage der Winterreifen, die Schadensregulierung, die Updates der Systeme und den Verkauf des Gebrauchtfahrzeugs. Doch diese ganze Reise kann der Hersteller alleine niemals bewältigen. Er braucht Partner, die einbezogen werden müssen. "Dabei stellt sich immer die Frage: Wem gehören die Daten? Und wer sorgt dafür, dass alles stimmt beziehungsweise haftet?", sagt der D2C-Berater.
Der große Vorteil an dem Modell: Wer die Hoheit über den Kundenkontakt hält, erkennt auch als erster, welche Artikel von den Kunden wie gebraucht werden. "Ein Hersteller wusste bis dato nicht, welche Sortimente in München besser laufen als in Wien oder Hamburg. Denn der Datenaustausch zwischen Hersteller und Händler ist in Deutschland schon allein kartellrechtlch schwierig", erklärt Hübner. "Mit iD2C wird der Hersteller zum ersten Pulsmesser und kann dann seinen Händlern empfehlen, was sie in welcher Stückzahl einlisten sollten."
1KOMMA5° - ein Musterbeispiel für iD2C neuester Bauart
Ein Musterbeispiel für ein iD2C-Unternehmen neuester Bauart ist das Start-up 1KOMMA5°, das Verbrauchern saubere Stromerzeugung mit einer Photovoltaikanlage, die maximale Eigennutzung des Stroms mithilfe eines Solarstromspeichers, nachhaltige Wärme durch eine Wärmepumpe oder Ladelösungen für das E-Auto aus einer Hand bietet. Im (Daten-)Zentrum der ganzen Produktpalette steht dann der smarte Energiemanager Heartbeat, der das Maximum aus dem eigenen Energiesystem zu Hause herausholt.
"Derartige Unternehmen entstehen derzeit überall auf der Welt und begründen eine neue Ära, in der überhaupt nicht mehr in Frage gestellt wird, ob der Anbieter D2C-first ist", sagt Hübner. "Und es geht nicht darum, Händlern Marge wegnehmen zu wollen. Es ist vor allem ein Software-Game. Und alle die das verstanden haben, werden D2C in die nächste Dekade tragen."
Gleichwohl wird es auch weiterhin Brands geben, die mit einfacheren Strickmustern für Überraschungen sorgen. Denn längst hat sich um die klassischen D2C-Brands herum ein neues Ökosystem an Dienstleistern gebildet, die das Flywheel neu befeuern. Plattformen wie Disconetwork.com beispielsweise aggregieren inzwischen über 1.000 D2C-Brands, die auf Wunsch auch ihre Kräfte bündeln und gemeinsam Produkt-Bundles vermarkten können. Und Investoren schauen interessiert auf Software-Entwickler, die versuchen, mithilfe von Big Data, Artificial Intelligence und Statistik neue Attributionsmodelle zu bauen, die die Werbeeffizienz von D2C-Brands verbessern.

Disconetwork.com
Stationärer Handel ist auch jenseits von Geschäften möglich
Darüber hinaus experimentieren erste Start-ups in den USA mit dem Verkauf von Produkten jenseits des klassischen Handels. "Wir kaufen zwar 85 Prozent unserer Produkte stationär, aber wir verbringen nur ein Prozent unserer Lebenszeit in klassischen Geschäften", erklärte David Bell beim D2C-Club. "Da liegt es doch nahe, den Verkauf in andere Lebenswelten zu transferieren."
Start-ups wie Hausmart oder Minoan denken bereits einen Schritt weiter. Unter dem Motto "Shop the World around you" bietet Minoan Brands die Möglichkeit, ihre Zielgruppen in nativen Umgebungen wie beispielsweise einer Airbnb-Wohnung, einem Hotel oder einem Restaurant anzusprechen. Denn: Wer im Urlaub mit dem Kochgeschirr von Caraway kocht oder sich mit den Badetüchern von Weezie abtrocknet, möchte dies künftig vielleicht auch zuhause tun.
Das Totenglöckchen können sich Pessimisten also für andere Geschäftsmodelle aufheben. Denn D2C hat seine besten Jahre erst noch vor sich.